Auf Cthulhus Spur

Gepflegtes Rollenspiel rund um den kriechenden Wahnsinn

印象 Insho – Impressionen

Frau Cheng serviert mir mit einem Lächeln und einer gutgemeinten Weisheit ein spätes Frühstück . “Der frühe Vogel fängt den Wurm”, sagt sie freundlich und ruhig. “Dōng là, xī suān (Der frühe Wurm wird vom Vogel gefressen)”, erwidere ich, das wohlbekannte chinesische Sprichwort vervollständigend und widme mich dann, Frau Chengs überraschten Gesichtsausdruck ignorierend, meiner Mahlzeit. Ich muss ihr jetzt nicht erklären, warum ich Mandarin spreche.

Meine Gedanken schweifen ab. Ich habe Kurō schon lange nicht mehr gesehen. Das beunruhigt mich nicht – er ist eine Katze – aber dennoch würde ich ihm gerne einmal wieder begegnen. Ich denke an Japan und seine Burgen. Aus irgendeinem Grund kommt mir eine Geschichte in den Sinn, von der Mycroft mir erzählt hatte. Es ist noch nicht einmal anderthalb Jahre ist her, dass meine Freunde im Brunnen im Hof der Burg Himeji eine unheimliche Begegnung mit dem wütenden Rachegeist der Magd Okikō erlebten. Am Ende der Zeit der Streitenden Länder war die Weiße Reiherburg, wie Himeji-jō auch genannt wird, im Besitz von Toyotomi Hideyoshi. Ihm sind auch die wesentlichen Erweiterungen des Gebäudes wie der Bau der dreistöckigen Burgtürme, zu verdanken. Als dunkles “Gegenstück” etwa könnte man die schwarze Krähenburg in Matsumoto verstehen. Ich wundere mich. Warum beschäftigt mich das gerade jetzt?

Ich schiebe diesen nicht uninteressanten Gedanken aber erstmal zur Seite und widme mich dem Studium des Anzeigenteils der Tageszeitung. Mir sticht die Annonce eines Mittelklassereihenhauses in der Canon Row 7, unweit des Westminster Palace, ins Auge. Das Haus ist renovierungsbedürftig, heißt es in der Anzeige. Dafür ist der Preis für die Immobilie mehr als angemessen. Der Makler, der sich um den Verkauf kümmert, heißt Howard Smith. Eine Telefonnummer und die Büroadresse sind auch hinterlegt, ebenso die Bürozeiten.

Ich beschließe nach dem Essen die Immobilie selbst einmal zu inspizieren und mir einen ersten Eindruck zu verschaffen, bevor ich Mr. Smith morgen mit meinem Anliegen belästige. Es ist kalt draußen, aber der Himmel ist klar. Das Haus ist auf den ersten Blick gut in Schuss. Hinter einem kleinen Vorgarten führen drei Stufen zum Eingangsportal des schmale, unauffälligen Gebäudes. Das Dach – das kann ich selbst von meiner Position am Grund erkennen – ist wirklich ziemlich in Mitleidenschaft gezogen. Das wird man ausbessern müssen. Die Tür ist vernagelt. Im Vorgarten steht ein Schild mit der Aufschrift “Zu verkaufen”. Ich versuche durch die Fenster einen Blick ins Innere zu erhaschen, aber das ist kaum von Erfolg gekrönt. Ich werde morgen Mr. Smith anrufen und mit ihm einen Termin für eine Besichtigung vereinbaren.

Den Rest des Nachmittages schlendere ich durch die Stadt. Ich habe kein konkretes Ziel, lasse mich einfach treiben und die Eindrücke auf mich wirken. An diesem sonnigen Nachmittag ist der Parlamentsbezirk relativ voll. Leute flanieren durch den Park, beäugen mich teils skeptisch, teils neugierig, zuweilen feindselig oder ängstlich. Ich ruhe in mir und lasse die Gefühle, die Fremde auf mich projizieren, nicht an mich herankommen.

Irgendwann merke ich, dass ich die wohlhabenden Viertel um Westminster hinter mir gelassen habe. Ich laufe durch schmuddelige Straßen. Der Schnee, der unordentlich an den Straßenrand gekehrt wurde, ist schwarz vom Kohlenruß der Fabriken. Ich bemerke zwei junge Burschen, die sich eilig von mir entfernen. Ich taste nach meinem Geldbeutel. Alles ist noch an Ort und Stelle. Ich trage heute zwar nur das Kurzschwert unter meinem Wintermantel, aber das ist offenbar ausreichend, um kleine Taschendiebe abzuschrecken. “Ey, was bist du denn für ein komischer Vogel”, pöbelt mich ein zahnloser Bettler mit schiefem Mund an. Ich überlege, etwas geistreiches zu erwidern, besinne mich dann aber eines Besseren.

Es herrscht viel Elend in der Stadt. Kriegsversehrte, Bettler, Straßenkinder… Auch das ist London, jenseits der Pracht und des Prunkes der Paläste des Erbadels und der reichen Industriellen. Neben dem Schmutz und dem Elend fällt mir auf, dass es hier vielerorts bestialisch stinkt. Auch in Tōkyō gibt es Elendsviertel, in denen die Verlierer der Gesellschaft ihr Dasein fristen, auch in Tōkyō ist der Schnee im Winter zuweilen dunkelgrau vom Ruß der Maschinen und Fabriken, aber solch ein Gestank ist mir in Japans Hauptstadt noch nie unter die Nase gekommen.

Es beginnt zu dämmern und die Gaslaternen werden langsam entzündet. Ich stelle fest, dass ich die Orientierung verloren habe und gerade nicht genau weiß, wo ich bin. Es fällt mir aber nicht schwer, zur nächsten Hauptstraße zu finden, wo ich auch schnell eine Droschke auftreiben kann, die mich zurück nach Soho bringt. Ich lasse den Kutscher ein paar Querstraßen von meinem Gasthaus entfernt halten. Auf dem Weg zu meiner Unterkunft fällt mir ein Plakat auf. Ein kleines Theater führt ein Stück mit dem Titel “Die Königin der Nacht” auf. Das Stück beginnt in einer Stunde, um 20:00 Uhr. Die Abendkasse hat schon geöffnet. Es gibt noch Karten, derer ich mir eine reservieren lasse. Dann kehre ich schließlich zurück ins Gasthaus. Es ist noch genug Zeit, mich umzuziehen und zu Abend zu essen, bevor ich das Theater aufsuche.

Das Theaterstück erzählt die gleiche Geschichte wie die Varieté-Aufführung in Berlin. Der König in Gelb, der Flötenspieler Tamino, der sein Priester werden soll, Cassilda, die Tochter der Königin der Nacht. Auch in dieser Geschichte wird die Königin als Antagonistin dargestellt, die dem König in Gelb in der finalen Schlacht unterliegt.

Ich denke auf dem Weg in die Herberge noch weiter über das Theaterstück nach, über Schlachten und Niederlagen, überliefert in mythologische Erzählungen und Geschichtsbücher. Licht und Schatten. Sonne, Mond und Sterne. Meine Gedanken schlagen wilde Haken.

In meiner Herberge serviert Frau Cheng noch einen Imbiss. Um zehn Uhr zur Sperrstunde aber wird der Schankraum geschlossen. Ich begebe mich auf mein Zimmer und widme mich einmal mehr meinen Übungen. Das Zimmer ist nicht mehr, als eine kleine Dachstube. Durch die schrägen Wände ist auch der Raum nach oben eingeschränkt, mein Schwert bleibt daher heute in meiner Tasche. Ich übe die waffenlosen Techniken, rufe die Erinnerung an den Mantel der Nacht wach und wiederhole ein um das andere Mal die Form, nur die Form, ohne die Kräfte zu aktivieren, die mich auf die Ebene des unheimlichen Tals versetzt. Der enge Raum macht dieses Unterfangen zu einer besonderen Herausforderung. Irgendwie spüre ich, dass es noch eine Möglichkeit gibt, diese Technik zu verbessern oder zu erweitern, aber heute Nacht komme ich nicht dahinter, wie ich das anstelle.

Im Traum sehe ich Kuro, wie er über die schneebedeckten Dächer der schwarzen Krähenburg in Matsumoto streift.