Auf Cthulhus Spur

Gepflegtes Rollenspiel rund um den kriechenden Wahnsinn

異変 (Ihen) – Unglück

Der Tag des großen Rennens ist da. Der Himmel präsentiert sich wolkenlos in Galablau. Insgesamt stehen fünf Teilnehmer für das Luftrennen bereit. Die Rennstrecke führt vom Flugfeld des Le Bouquet ins Stadtinnere zum Arch de Triumph und wieder zurück. Ich begleite Mycroft in den Hangar, wünsche ihm viel Glück und Erfolg und nehme dann auf der Tribüne neben Senchō Platz. Dem Lord erscheint das Spektakel unnötig. Er möchte sich lieber in den Ausstellungshallen umsehen in der Hoffnung dort etwas zu entdecken, das ihm seine Tochter und seine Geliebte zurückbringen kann.

Die Rennteilnehmer rollen an die Startlinie. Über die Lautsprecher werden unter tosendem Beifall ihre Namen verlautet. Auch Mycroft, der als Neuling angekündigt wird, wird vom Publikum mit Begeisterung empfangen.
Das Startsignal ertönt, gefolgt vom Aufheulen der Motoren. Mycroft legt einen guten Start hin. Als er aus dem Sichtfeld unserer Feldstecher entschwindet, ist er immerhin an zweiter Position.

Während wir mit Spannung auf die Rückkehr der Rennteilnehmer warten, wird über Lautsprecher verkündet, dass das Rennen abgebrochen werden musste. Es gab einen Zwischenfall, heißt es. Ein Raunen geht durch das Publikum. Die Menschen sind beunruhigt. Auch Senchō und ich tauschen besorgte Blicke aus und machen uns dann auf den Weg, den Lord zu finden. Wir begegnen ihm schnell, denn auch er hat die Lautsprecherdurchsagen vernommen und sich auf den Weg zu uns gemacht.

Inzwischen ist einer der fünf Rennteilnehmer zum Start zurückgekehrt. Das Flugzeug hat einen Motorschaden. Ob das der Grund für den Abbruch des Rennens ist? Wohl kaum. Als nach einer Weile drei weitere Maschinen zurückkommen, Mycrofts Martinsyde jedoch nicht darunter ist beginne ich mir ernsthafte Sorgen zu machen. Trotz des Trubels gelingt es mir, ein Taxi aufzutreiben, dass uns die Rennstrecke entlang zum Arch de Triumph bringen wird.

Erst, als wir den Wendeplatz für das Rennen fast erreicht haben, kommen wir mit dem Taxi nicht weiter. Die Straßen und Plätze rund um den Arch de Triumph sind abgesperrt. Nur Krankenwagen und Polizeiautos dürfen passieren. Ich bezahle den Chauffeur und wir gehen zu Fuss weiter, um unseren Freund zu finden.

Es bietet sich uns ein verheerendes Bild. Von einem Wohnhaus wurden über eine Breite von dreißig Metern sämtliche Balkone abgerissen. Ein großes, unsichtbares Objekt scheint vom Himmel gestürzt und zahlreiche Menschen unter sich begraben zu haben. Es gibt viele Verletzte und Tote. Ich erspähe die Martinsyde auf einem Grünstreifen. Sie sieht aus, als wäre sie mit etwas kollidiert. Eine der Tragflächen ist vollständig zerstört, auch sonst scheint die Maschine einige Schäden davongetragen zu haben.

Überall hört man Schreie und Klagelaute. Es ist fast wie im Krieg. Die vielen Helfer – Sanitäter, Kirchenleute, Polizisten und Zivilsten – geben ihr Bestes, die Verletzten zu versorgen und die Betroffenen zu trösten. Zum Glück ist nirgends ein Feuer ausgebrochen. Nahezu zeitgleich mit Senchō entdecke ich Mycroft. Er hilft bei der Versorgung eines Verletzten. Ich bin erleichtert, ihn wohlauf zu sehen. Als wir zu ihm stoßen, gibt er uns einen kurzen Überblick über das aus seiner Sicht Geschehene. Er sagt, er sei mit etwas zusammengestoßen, das er nicht sehen konnte. Dieses unsichtbare Etwas war daraufhin wohl an der Hauswand dort drüben zum Absturz gekommen. Schlimmeres beim Absturz seines Flugzeugs konnte er verhindern. Die Notlandung auf dem Grünstreifen hatte keine Opfer gefordert.

“Schade um die Maschine”, sagt der Lord. Typisch. Während um uns herum Menschen sterben und um ihr Leben kämpfen, bedauert er zuerst den Verlust des Flugzeugs. Mit diesem seiner Wesenszüge werde ich mich wohl nie richtig anfreunden können. Ich wende mich ab und schaue, wo ich helfen kann. Unter den Steinen der abgerissenen Balkone liegen noch immer Menschen begraben. Das unsichtbare Objekt wurde mittlerweile zur Seite getragen. Für seine Größe soll es erstaunlich leicht gewesen sein. Zusammen mit anderen schaffe ich das Geröll beiseite. Ich entdecke einen blonden Haarschopf unter dem Schutt. Mit Gesten und Wortfragmenten gebe ich meinen Mithelfern zu verstehen, dass ich jemanden gefunden habe und Hilfe brauche. Mit vereinten Kräften befreien wir die Person von den Steinen. Es ist ein kleines Mädchen, etwa zehn Jahre alt. Ihre Augen sind geschlossen, aber sie atmet flach.

Jemand tippt mir auf die Schulter. Es ist Mycroft.
“Wir haben Jean Le Tellier getroffen”, sagt er, “im Ain Department ist etwas passiert.”
Der Lord steht neben ihm. Ihm ist anzusehen, dass er so schnell wie möglich zurück möchte.
Ich beobachte, wie zwei Sanitäter das kleine Mädchen auf eine Bahre legen und zu einem Krankenwagen tragen. Ich habe keine Ahnung, wie ihr Zustand ist und ob sie das Unglück überleben wird. Das liegt nicht in meiner Hand, doch es gibt noch viele andere, die unter dem Schutt begraben liegen und auf Rettung warten.
“Ich kann hier jetzt nicht weg”, antworte ich, “ich komme später nach. Ich merke nicht, wie die Zeit vergeht. Es sind einige Stunden, die ich an der Unglücksstelle zubringen, bevor ich erschöpft ins Hotel zurückkehre.

Meine Freunde sind gerade im Aufbruch begriffen, als ich dort ankomme. Es gab einen Anruf von Carla-san. Mare, Mari-chan und Carla-san sind zurück. Auch Lady Evelyn ist auf Mirastel und am Leben, erschöpft und geschwächt zwar, aber sie wird überleben. Mycroft und der Lord haben die Brüder Macpherson getroffen. Als Keith und Ross von unserem Dilemma erfahren haben, hatten sie sich spontan bereit erklärt, uns nach Lyon zu fliegen. Ich packe noch schnell meine Sachen zusammen und folge dann meinen Freunden zum Flugfeld, wo die Brüder uns bereits erwarten.

In Lyon angekommen verabschieden wir uns bei den Macphersons. Für den Rückflug nach Paris ist es heute schon zu spät. Sie wollen erst morgen bei Sonnenaufgang aufbrechen. Wir besteigen den Citroën und fahren los in Richtung unseres Domizils. Mycroft ist unkonzentriert, kein Wunder nach einem so aufregenden Tag. Es ist schon spät. Die Dunkelheit und die vereiste Fahrbahn tun ihr Übriges, um ihm die Fahrt zu erschweren.

Auf der Landstraße zwischen Genf und Lyon geraten wir ins Schleudern. Mycroft verliert die Kontrolle über den Wagen und wir landen unsanft am Straßenrand. Wir werden ordentlich durchgeschüttelt und ein verdächtiges, metallisches Knacken unter uns lässt nichts Gutes erahnen. Ein Blick mit der Taschenlampe unter das Fahrzeug bestätigt unsere Befürchtung. Die Vorderachse ist gebrochen. Es ist früher Morgen, vielleicht irgendetwas zwischen drei und vier Uhr. Wenn es kommt, dann richtig. Mycroft resigniert. Heute ist nicht sein Tag. Ich versuche der Situation mit Ironie zu begegnen.

Warm eingepackt machen wir uns zu Fuß auf den Weg. Als wir etwa fünf Kilometer gelaufen sind, entdecken wir am Straßenrand eine Zaunlatte mit einem Schriftzug. „Wir sind in 50 Kilometern Höhe“, ist dort zu lesen. „Das ist doch Mari-Anns Handschrift“, ruft Senchō begeistert. Das ist nicht auszuschließen. 

Nach einer weiteren Weile kommt ein Auto die Straße in unserer Richtung die Straße entlang. Es ist ein Postauto. Der Wagen hält neben uns und der Fahrer öffnet die Tür. Da der Lord der einzige von uns ist, der fließend Französisch spricht, übernimmt er die Kommunikation. Der Fahrer bietet eine Mitfahrt an, doch hat er bedauerlicherweise nur einen Platz in seinem Auto frei. Der Lord hebt entschuldigend die Schultern. “Sorry”, sagt er, “ich muss da mitfahren.” Er will so schnell wie möglich zu seiner Tochter, das ist nur verständlich.

Als wir Beon erreichen, verlassen Mycroft seine Kräfte. Auch Senchō ist nicht mehr ganz frisch. Ich für meinen Teil hätte kein Problem damit, den Weg fortzusetzen, aber meine Freunde brauchen eine Pause. Wir kehren in eine Wirtschaft ein, erhalten dort ein kräftigendes Frühstück und erfahren, dass in etwa einer Stunde ein Fuhrwerk nach Mirastel aufbrechen wird, um dort Material abzuliefern.

Das Hauptthema sind die Ereignisse des letzten Tages. In der Gemeinde Tallisien ist im Weinberg etwas vom Himmel gefallen. Es ist nicht zu sehen, aber man kann es anfassen und offenbar hatte dieses Etwas den entführten Menschen als Gefängnis gedient, denn man hatte sie dort gefunden und geborgen, viele geschwächt aber lebendig, aber es gibt auch einige Tote zu beklagen.

Es beginnt zu dämmern, als wir nach Mirastel aufbrechen. Dort angekommen erfahren wir, dass der Lord an der Seite seiner Tochter weilt, die man in das Zimmer des verstorbenen Monsieur Aquredouvre gebettet hat. Carla-san, Mari-chan und Mare erholen sich in den Gästebetten. Auch mich übermannt nun langsam die Müdigkeit. Dass ich schon seit 22 Stunden auf den Beinen bin, macht sich nun bemerkbar. Erschöpft doch erfüllt von Dankbarkeit entgleite in einen tiefen Schlaf, als ich in mein Bett sinke. Im Traum wandle ich in den Schatten.