Auf Cthulhus Spur

Gepflegtes Rollenspiel rund um den kriechenden Wahnsinn

夜騒 (Yo sawagi) – Nächtliches Gelage

Es klopft zaghaft an meiner Zimmertür. “Sanjūrō?”
Schlaftrunken rapple ich mich auf. “Ist alles okay bei dir?”
“Ja, alles in Ordnung”, antworte ich, “gib mir nur einen Moment.”

Es ist bereits nach elf.
“Ah, da bist du ja”, freut sich Mycroft, “ich dachte schon, du willst den ganzen Tag verschlafen.”
“Wir haben doch heute noch was vor”, erwidere ich, während ich mir einen Tee einschenke, “danke, dass du mich geweckt hast.”

Eine knappe Stunde später erreichen wir die Halle, in die man das fremde Flugobjekt gebracht hatte. Jean Le Tellier begrüßt uns hocherfreut. “Mycroft, Sanjūrō, schön, euch zu sehen”, ruft er, als er unser gewahr wird. Nicht ohne eine gewisse Faszination erzählt er, dass es bisher nicht möglich gewesen sei, das fremde Objekt sichtbar zu machen. Es gibt keine Farbe, die an der Oberfläche haften würde, sagt er. Mycroft hat eine Idee. “Mari-Ann hat doch neuerdings diese besondere Vorliebe für Pilze”, sagt er, “vielleicht lässt sich daraus irgendetwas herstellen, das uns weiterbringt.” Er fragt Jean, ob er irgendwo telefonieren kann. Jean zeigt ihm das Telefon und Mycroft lässt sich nach Mirastel mit Mari-chan verbinden. Sie verspricht, so schnell wie möglich zu uns zu kommen.

Wir machen uns nun ein Bild von dem Objekt, indem wir es abtasten. Es erstreckt sich über einen Raum von etwa dreißig mal fünf mal zehn Metern. Es hat eine zigarrenartige Form, ganz wie unsere modernen Luftschiffe. An der Unterseite entdecken wir eine Öffnung. Mycroft schlägt vor, unterhalb dieser ein Feuer zu entfachen m und zu beobachten, was mit dem Rauch geschieht, wenn er in das Innere des Schiffes eindringt. Die Idee stößt auf Zustimmung. Feuerholz wird herbeigeschafft und entzündet. Der Rauch steigt auf und verschwindet dort, wo er in die Öffnung des Luftschiffes entweicht. Einigen der Umstehenden Ermittler und Polizisten steigt bei diesem Anblick eine furchtsame Blässe ins Gesicht.
“Wollt ihr da mal rein?”, fragt Jean Le Tellier. Er rennt damit offene Türen bei uns ein. Natürlich wollen wir das. Bisher hatte es noch niemand gesagt, in das Innere des fremden Flugobjektes vorzudringen.

Man schafft eine Leiter heran, über welche wir nach oben klettern. Dort angekommen finden wir Halt auf einem festen Untergrund, auch die Außenwände des Schiffes können wir ertasten und wir können alles sehen, was außerhalb ist. Knapp über unseren Köpfen ertasten wir etwas, das sich wie ein Greifarm anfühlt.
“Ihr seid vollständig verschwunden”, ruft Jean fasziniert.
Mit Bedacht machen wir ein paar Schritte vorwärts. Es ist ein seltsames und gleichermaßen wohlig vertrautes Gefühl, über diesen unsichtbaren Grund quasi durch die Luft zu laufen. Es ist ebenso echt, wie es zur gleichen Zeit unecht ist, wie in der Zwischenwelt des Unheimlichen Tals. Vielleicht bewegt sich dieses Luftschiff auf der gleichen Ebene, auf die ich mich begebe, wenn ich den Mantel der Dunkelheit anlege? Ich könnte es herausfinden, indem ich mich auf diese Ebene begebe, aber das ist gerade nicht möglich. Es ist hellichter Tag und das Reich der Königin der Nacht ist mir jetzt nicht zugänglich.
“Sei vorsichtig, so fängt es immer an”, warnt mich Mycroft, dem meine geistige Abwesenheit nicht entgangen ist.
“Es hat schon längst begonnen”, antworte ich ruhig. Ich erinnere mich an den Moment, als ich das Kirishimo mit dem Heft zur Seite des Mondes in den Schwertständer des Schreins in meinem Keller legte. Damals wußte ich es nicht, aber heute ist mir klar, dass es dieser Augenblick war, in dem ich entschieden habe, den Weg der Schatten zu beschreiten.

Wir tasten uns weiter durch den unsichtbaren Raum. Nach ein paar Metern stoßen wir auf ein Hindernis. Es ist ein Block, der fast vollständig unseren Weg versperrt. Nur auf der rechten Seite gibt es einen etwas weniger als einen Meter breiten Durchgang. Als wir diesen passieren, vernehme ich plötzlich ein fremdartiges Knirschen unter meinen Füßen. Ich muss auf etwas getreten sein. Ich ziehe mir Handschuhe über meine Finger, gehe in die Hocke und beginne vorsichtig, das, auf was auch immer ich da gerade getreten bin, zu untersuchen. Es ist ein etwa zwanzig bis dreißig Zentimeter im Durchmesser großes, rundes, offenbar lebloses Ding. Es hat einen kugeligen, weichen Leib in der Mitte, von dem aus sechs feine, spinnenbeinartige Gliedmaßen abgehen. Es fühlt sich organisch an. Ich berge das Fundstück in einem Stück Papier und stecke es in meine Tasche.

Wir gehen vorsichtig tastend weiter. Als wir geschätzt am Ende des Luftschiffes ankommen, entdecken wir mit unseren Händen ein regloses Konstrukt, das aus einer Vielzahl dieser Wesen zusammengesetzt zu sein scheint. Die Gliedmaßen untrennbar ineinander verhakt haben sie sich zu einer grob humanoiden Form zusammengeschlossen, ganz so, als wollten sie einen Menschen nachahmen. Ich frage mich, zu welchem Zweck diese Konstruktion erschaffen wurde. Wollten sie vielleicht mit uns in Kontakt treten, bevor sie unglücklicherweise mit Mycrofts Martinsyde zusammengestoßen sind? Das Konstrukt hat für seine Größe kaum Gewicht. Allein seiner sperrigen Form ist es zu verdanken, dass wir es zu zweit nach draußen bringen müssen. Jean Le Tellier kommt aus dem Staunen nicht mehr heraus.

Es ist jetzt etwa drei Uhr am Nachmittag und Mycroft schlägt vor, dass wir uns noch den Rest des Flugspektakels ansehen. Auch Mari-chan wird demnächst ankommen. Mycroft sieht sich an den Ständen diverser Flugzeughersteller um. Seine Martinsyde ist amtlich Schrott. Eine Reparatur wäre aufwendig und teurer, als eine Neuanschaffung. Schließlich bleibt er am Stand des deutschen Herstellers Junkers hängen. Er lässt sich beraten, verhandelt und ordert schließlich ein neues Flugzeug bei den Deutschen.
“Ein Jahresgehalt”, seufzt er, aber das Bedauern hält nur kurz an und weicht schnell der Erwartungsfreude ob des neuen Spielzeugs.

Bald darauf sehen wir ein feuerrotes, kleines Flugzeug im Landeanflug auf das Aerodrom zusteuern. Mari-chan ist angekommen. Wenig später landet eine weitere Maschine, die uns sehr bekannt vorkommt. Es ist eine Martinsyde. Sie trägt das Signet von Highclere Castle.
“Der Lord überlässt mir seine”, erklärt Mycroft gerührt, “aber die Junkers kaufe ich trotzdem.”
Man lebt offenbar auf großem Fuße, wenn man in England etwas darstellen möchte.

Wir holen Mari-chan ab. Sie berichtet uns von den jüngsten Ereignissen im Ain Department. Die Aufräumarbeiten sind noch nicht abgeschlossen, aber man hatte inzwischen alle Menschen bergen können, die von den Fremden gefangen gehalten worden waren. Maxime ist wohlauf und erholt sich auf Mirastel. Collins hat das Martyrium leider nicht überlebt. Sein Leib konnte nur noch tot geborgen werden. Doch er hat ein Tagebuch hinterlassen, in dem er seine Erlebnisse und Eindrücke aus seinem Gefängnis fünfzig Kilometer über der Erde niedergeschrieben hat. Sie will so schnell wie möglich ins Hotel, um mit ihren Experimenten für die Sichtbarmachung des Luftschiffes zu beginnen. Ich überlasse ihr den toten Leib der einzelnen Kreatur, die ich aus dem Schiff mitgenommen hatte, um die Wirksamkeit ihrer Experimente zu erproben, bestehe aber darauf, das Fundstück zurück zu bekommen.

Mycroft und ich wollen nun auch endlich den Nachtclub besuchen, der uns schon bei unserer Ankunft in Paris aufgefallen war.
“Ich übernehme die Rechnung”, meint er gönnerhaft.
“Vergiss es”, widerspreche ich, “abgemacht war, dass du bezahlst, wenn du das Rennen gewinnst. Das hast du nicht, also geht es auf mich.”
“Okay, einverstanden”, sagt er.
Der Club ist nicht weit von unserem Hotel entfernt. Nach knapp fünfzehn Minuten Fußweg sind wir da. Bis auf das verzierte Tor ist das Äußere des Gebäudes völlig schmucklos. Das Innere ist mit rotem Teppich ausgelegt. Auf einer Bühne ist die Requisiten einer Bibliothek aufgebaut. Süßlicher Rauch liegt in der Luft und die Bar bietet ein reichhaltiges Angebot verschiedenster Spirituosen feil.

Wir müssen nicht lange warten, bis die Vorführung beginnt. Das Stück ist gewöhnungsbedürftig. Es erzählt die Geschichte einer chaotischen Bibliothek, vorgetragen als Sanges- und Tanzwerk. Leicht bekleidete Damen hüpfen zu den Liedern eines geschniegelten Sängers durch die Requisite. Die Geschichte erinnert mich an das, was Mycroft über die Bibliothek zu Babel herausgefunden hat, der Ort, an dem sich das Sandbuch befinden soll. Ich bin schon etwas berauscht, darum finde ich das Stück irgendwie lustig. Andere Gäste verlassen entsetzt das Etablissement.

Nach der Vorführung begebe ich mich an die Bar. Ein Mann etwa in meinem Alter nimmt neben mir Platz. Er trägt ein Einstecktuch in der rechten Brusttasche seines Anzugs, obwohl dieses üblicherweise links getragen wird. Jacques, der Barkeeper der Herberge in Montsegur, in der wir im vergangenen Sommer ein paar Tage verbrachten, hatte mir erklärt, dass das Einstecktuch in der rechten Brusttasche ein Erkennungszeichen unter Männern ist, die in ihrer Sexualität eine Vorliebe für das gleiche Geschlecht hegen. Der Mann sucht das Gespräch mit mir, spricht mich auf Französisch an, doch ich verstehe nur Fragmente. “Parlez-vous anglais?”, frage ich. “Un peu”, antwortet er und ordert beim Barkeeper zwei Drinks, die auch prompt geliefert werden.
“Absinthe”, erklärt er. Es bleibt nicht bei dem einen Glas. Die zweite Runde ordere ich. Dazu rauchen wir gemeinsam einige Opiumpfeife.
Die Band spielt anregende Jazz-Musik. “Danse?”, fragt er. Es ist seltsam, aber ich verspüre tatsächlich Lust dazu. “Hai”, antworte ich.
Ich habe das Gefühl, regelrecht auf die Tanzfläche zu schweben. Ich finde Gefallen an diesem neuartigen Rausch. Ich fühle mich so gelöst, wie lange nicht mehr. Mein Blick ruht auf meinem namenlosen Begleiter. Mein Jagdtrieb ist geweckt und auch er betrachtet mich mit offensichtlicher Begierde.
Irgendwo von Fern dringt eine Stimme zu mir vor. “Sanjūrō”, ruft jemand, doch ich höre nicht hin. Ich habe heute nur ein Ziel. Ich will mich vollkommen vergessen, auch wenn ich es morgen womöglich bereue.
“Sanjūrō”, höre ich erneut jemanden rufen. Ich spüre eine Hand auf meiner Schulter. Sofort werden meine Verteidigungsreflexe aktiviert. In Sekundenschnelle wirble ich herum, bereit, mich zur Wehr zu setzen. Ich lasse meine Arme wieder sinken, als ich erkenne, dass es Mycroft ist. Er wirkt gehetzt.
“Wir müssen hier raus, sofort”, sagt er. Es liegt vermutlich an den Drogen, dass sich seine Panik offenbar ungefiltert auf mich überträgt. Mit entschuldigend gehobenen Schultern verabschiede ich mich von meinem Tanzpartner und folge Mycroft nach draußen.
“Was sollte das gerade? Was ist denn los?”, frage ich verwirrt und auch ein wenig erbost ob der entgangenen Gelegenheit.
“Wolltest du lieber eine Orgie in Carcosa feiern?”, fragt er.
“Was? Carcosa? Nein, natürlich nicht”, erwidere ich ungehalten.
“Dann solltest du mir dankbar sein”, meint er. Er erzählt etwas von Cassilda und einer Stimme, die mit ihm gesprochen hat. Es fällt mir schwer, im zuzuhören.
“Ich kann dir nicht ganz folgen”, gestehe ich, “ich stehe unter Drogen.”

Wir gehen zu Fuß zurück zum Hotel. Als wir unsere Suite erreichen, bin ich bereits wieder etwas klarer. Mycroft berichtet mir, dass er Cassilda begegnet sei. Sie habe ihn gedrängt, zur Bibliothek zu reisen und seinen Namen endlich in das Sandbuch zu schreiben. Auch der Byakhee hatte als Stimme in seinem Kopf Druck auf ihn ausüben wollen.
“Sie drängen darauf, dass sich die Geschichte in ihrem Sinne und im Sinne des König in Gelb erfüllt”, vermute ich, “sie werden dich wahrscheinlich so lange unter Druck setzen, bis du den Auftrag erfüllt hast.”
“Das will ich aber gar nicht”, sagt er, “ich habe gar kein Interesse daran, ein gelber Magier zu werden und für Hastur menschliche Seelen zu sammeln.”
“Das ist mir schon klar”, antworte ich, “aber ich wage zu bezweifeln, dass du dich auf lange Sicht erfolgreich allein dagegen zur Wehr setzen können wirst. Cassilda, ist sie nicht die Tochter der Königin der Nacht? So wurde es zumindest in der Varieté-Vorstellung in Berlin erzählt.”
Mycroft denkt nach.
“Kann sein”, sagt er, “und wie hilft uns das jetzt weiter?”
“Das kann ich nicht genau sagen”, antworte ich, “dafür weiß ich noch nicht genug über meine Gönnerin. Aber ich denke, es ist eine Möglichkeit.”