Auf Cthulhus Spur

Gepflegtes Rollenspiel rund um den kriechenden Wahnsinn

罪悪感 (Zaiakukan) – Schuldgefühle

Ich öffne die Augen. Es ist mitten am Tag. Ein paar vereinzelte Wolkenschleier zieren den ansonsten perfekt blauen Frühlingshimmel. Ich spüre den Wind auf meiner Haut, den Sand unter meinen Füßen und lausche dem Klang der Rathausuhr, die elf Mal ihre Glocke schlägt. Ulthar – ich bin zurück.

Dieses Mal kommt es mir gleich in den Sinn, meine Kleider aus der Traumlandtruhe anzulegen. Eine Nachricht für mich wurde dort nicht hinterlegt. Die kreisrunde, von den Kugeln ausgehende Aura ist immer noch vorhanden, sie ist aber nur wenig gewachsen, seit ich zuletzt hier war. Das gibt mir Hoffnung, dass ich nicht allzu viel Zeit in der Bibliothek verloren habe.

Ich kehre zurück nach Ulthar zum Gasthaus “Zum Seemannsgarn”. Der Wirt begrüßt mich, fragt mich, ob ich heute auch wieder ein Zimmer benötige, was ich bejahe. Ich frage ihn, wie lange ich weg wer. Er schaut mich irritiert an. “Ihr wart erst gestern Abend hier und habt mit einem Freund gesprochen”, sagt er. “Vielen Dank”, erwidere ich. Es waren also nur Stunden, die mich die Bibliothek von Babel in ihren Bann ziehen konnte. Das erleichtert mich.

Ich gehe nun zur hiesigen Bibliothek. Vielleicht kann ich die Recherchen des Lord fortsetzen und etwas über das Ritual “Astrale Pfade reinigen” finden. Ich frage den Bibliothekar, welcher mich in die Abteilung für Rituale und Zauberformeln verweist.
Heute scheint ein Glückstag zu sein. Schon m ersten Buch, das ich aus dem Regal nehme, finde ich eine ausführliche Ritualbeschreibung für das Gesuchte. Ich kann sie sogar übersetzen. Sorgfältig fertige ich eine ins Englische übersetzte Abschrift der Beschreibung an. Die Worte des Zauberspruches, der zur Vollendung der astralen Reinigung gesprochen werden muss, überprüfe ich mehrfach auf seine Richtigkeit.

Ich bin gerade mit der Abschrift fertig geworden, als ich von einer mir wohl vertrauten Stimme angesprochen werde.
“Immer mit der Ruhe, der Herr!”
Ich spüre deutlich, wie mein Herzschlag schneller wird und verharre in meiner Bewegung. Die Schreibfeder gleitet mir aus den Fingern und fällt mit einem leisen Pochen auf die hölzerne Tischplatte. Ich drehe mich um, blicke in das unversehrte Gesicht meines Freundes, stehe auf und falle ihm, ein Schluchzen unterdrückend, um den Hals. Meine Emotionen überwältigen mich. Tränen der Freude und der Erleichterung rinnen heiß über mein Gesicht und benetzen seinen Nacken.
“Ich bin so froh, dich zu sehen”, sage ich mit halb erstickter Stimme, “geht es dir gut?”
“Ich bin in Ordnung”, sagt er ruhig, “zurück auf Highclere Castle.”
“Das ist gut”, sage ich, wische mir verlegen die Tränen aus dem Gesicht und atme ein paar Mal tief und ruhig durch. Mein Blick fällt auf das Schreibpult, an dem ich gerade gesessen habe und auf die darauf liegende Abschrift.
“Hier, das könnte euch vielleicht nützlich sein”, sage ich und reiche ihm das Papier.
Mycrofts Augen weiten sich vor Erstaunen.
“Das ist brilliant. Genau das, was uns noch fehlt”, sagt er. Schwierig wird es nur, das Papier aus den Traumlanden in die Wachwelt zu bringen. Es ist nicht magisch und ich kann es meinem Freund nicht einfach mitgeben. Nach einigem Überlegen schlage ich vor, die Ritualbeschreibung im Zweifelsfall einfach per “Flaschenpost” durch das Portal in Joes Haus zu schicken.

Wir verlassen die Bibliothek und kehren ins Gasthaus ein, um uns ausgiebig und in Ruhe auszutauschen.
“Der Lord hat mir erzählt, dass der Pakt zwischen dir und dem, der nicht genannt werden darf, gebrochen wurde”, sage ich, “hat er dich einfach so gehen lassen?”
“Nein, das nicht”, erzählt er, “ich sollte heiraten und ich habe mich verweigert und die Flucht ergriffen. Ich glaube, er ist ziemlich sauer auf mich.”
Die Art und Weise, wie er von seinem Abenteuer erzählt, bringt mich zum Schmunzeln. Er berichtet, wie er sich, nachdem er seinen Namen in die Wand der Bibliothek geschrieben hatte, im Nichts seiend und das Sandbuch in seinen Händen haltend, wiederfand. Er hatte es aufgeblättert und wie in den Aufzeichnungen beschrieben zerfiel es in seinen Händen zu Sand, je näher er der mittleren Seite kam. Bevor das Buch ganz zerfiel, hatte er noch seinen Namen auf die Seite in der Mitte des Buches geschrieben und war dann in der Wüste Oreg-Na zu sich gekommen. Dort hatte Cassilda ihn erwartet und ihm gesagt, dass sie jetzt einander heiraten würden, was ihm wiederum gar nicht in den Kram passte.
“Der Byakhee hat mir noch einen letzten Gefallen getan und mich zurück nach Hause gebracht”, erzählt er, “und dann hat er uns angegriffen.
Aber genug davon. Ich bin hergekommen, um zu erfahren, wie es dir geht.”
“Solange ich träume, geht es mir gut”, antworte ich, “mein Körper ist aber noch immer an dem verfluchten Ort, an dem wir uns zuletzt gesehen haben. Die Bibliothek setzt mir gewaltig zu und hat bereits begonnen, mich zu verführen. Ich bin hierher geflohen, um dem Wahnsinn zu entkommen und es funktioniert. Ich darf hier nur nicht einschlafen oder ohnmächtig werden oder sterben, dann kann ich bei Verstand bleiben. Das ist meine einzige Chance. Es wird jedes Mal, wenn ich in der Bibliothek aufwache, schwerer für mich werden, mich zu erinnern und mich nicht vollends zu vergessen.”
Ich erzähle weiter von meinem gescheiterten Versuch, durch das Portal nach Highclere Castle zurück nach England zu kommen und dem, was es bei mir ausgelöst hat.
“Kann deine Göttin dir nicht helfen?”, fragt Mycroft.
“Ich kann hier nicht beten. Das Risiko, dass ich dabei entgleite ist mir zu hoch.”
“Ich meine in der Bibliothek”, fährt er fort. Der Gedanke, an den Ort meiner Pein zurück zu kehren, lässt mich erschauern.
“Ausgeschlossen”, widerspreche ich, “es war reines Glück, dass ich es so schnell wieder hierher geschafft habe. Ich weiß nicht, ob mir das noch einmal gelingt und wenn es scheitert, bin ich womöglich endgültig verloren.”
Mycroft schaut betreten in sein Glas.
“Das ist alles meine Schuld. Ich hätte dich nicht mitnehmen dürfen”, lamentiert er.
“Was redest du da für einen Unsinn”, protestiere ich, “es war meine Entscheidung, dich zu begleiten. Du hast sogar noch versucht, es mir auszureden, also hör auf damit, dich so zu quälen.”
“Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich das niemals zugelassen.”
“Du wusstest es aber nicht oder wolltest es nicht wissen – genau wie ich.”
Ich ergreife seine Hand und schaue im fest in die Augen.
“Ich möchte nicht, dass du dir meinetwegen Vorwürfe machst”, erkläre ich ruhig, “ich stehe selbst für meine Entscheidungen und Taten ein. Du beleidigst mich, wenn du mein Urteilsvermögen in Abrede stellst und dir die Verantwortung für mein Handeln aufbürdest.”
“Ich will dich doch einfach nur zurück holen”, seufzt er, “430 Lichtjahre… Was habe ich mir nur dabei gedacht.”
Es gelingt mir einfach nicht, ihm seine Schuldgefühle auszureden.
“Das ist jetzt überhaupt nicht wichtig”, sage ich, noch immer seine Hand haltend, “ich bin glücklich, dass du hier bist und dass wir hier zusammen sein können, wenn es in der Wachwelt schon nicht möglich ist. Lass uns die Zeit, die uns bleibt, nicht vergeuden. Lass uns was unternehmen.”
Die Miene meines Freundes hellt sich sichtbar auf.
“Du hast Recht”, pflichtet er mir bei. Ein Lächeln kehrt in sein Gesicht zurück.
“Was schlägst du vor?”
“Land kaufen und ein Haus bauen zum Beispiel”, erwidere ich, “Bauer Frantek hat Land, das er veräußern möchte.”
“Na dann los”, ruft Mycroft und springt energisch auf, “lass uns ein Haus bauen.”
“So gefällst du mir schon viel besser”, freue ich mich und wir machen uns auf zu Bauer Frantek.

Dieser ist sehr erfreut über unser Interesse. Das Land, auf dem sich das Portal nach Highclere Castle befindet, will er uns aber nicht überlassen. Es sei zu gefährlich und er könne das nicht mit seinem Gewissen vereinbaren, erklärt er. Nach einigem Hin und Her einigen wir uns. Mycroft und ich erwerben jeweils einen Hektar  Land in unmittelbarer Nachbarschaft zum Portal. Die Grundstücke liegen direkt nebeneinander. Wenig später schon sind wir als Landeigentümer im Grundbuch von Ulthar eingetragen.

“Wir sind jetzt Nachbarn”, stellt Mycroft zufrieden fest.
“Sieht so aus”, erwidere ich, “ich könnte mir auch gut vorstellen, dauerhaft hier zu leben, so richtig, meine ich, physisch.”
“Kein schlechter Gedanke”, stimmt Mycroft mir zu. Seine Gestalt neben mir beginnt zu verblassen. Er wird zurück in die Wachwelt gezogen.
“Ich werde wohl gleich aufwachen”, bestätigt er meine Vermutung. Die Durchsichtigkeit seiner Gestalt nimmt stärker zu.
“Mach’s gut, bis morgen”, ruft er mir mit einem letzten Lächeln zu.
“Sanfte Träume”, wünsche ich ihm, dann ist er verschwunden und ich bin allein. Für einen Moment umfängt mich eine gewisse Wehmut, doch ich halte mich nicht allzu lange damit auf, ihn zu vermissen.

Der Abend ist bereits angebrochen. Ich kehre zurück in die Gastwirtschaft und lausche den Gesprächen der Einheimischen. Kurō habe ich auch heute nicht gesehen. Als die Nacht sich zu ihrer vollen Schönheit entfaltet hat und die menschlichen Bewohner der Traumlande längst zur Ruhe gegangen sind, sitze ich beim Schein einer Kerze am offenen Fenster und fertige Skizzen für die Bebauung meines Anwesens an.